Psychologie im Nationalsozialismus: Die Erziehungsanstalt Kaiserebersdorf

Shownotes

Der Ort Das Schloss Kaiserebersdorf an der Kaiser-Ebersdorfer-Straße 297 im 11. Wiener Gemeindebzirk hat eine lange Geschichte. Im 16. Jahrhundert wurde das festungsartige Gebäude in ein Jagd- und Lustschloss umgebaut. In der zweiten Türkenbelagerung wurde es zerstört, danach im barocken Stil wiederaufgebaut und diente in der Folge als Sommerresidenz der Habsburger Herrscher. Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts beherbergte es eine Kaserne.

In den späten 1920er Jahren wurde hier die Bundesanstalt für Erziehungsbedürftige eingerichtet, in welcher auch mit Hilfe der damals neuen „psychotechnischen Verfahren“ (heute: „entwicklungspsychologische Diagnostik“), sozial schwer integrierbaren oder kriminellen Jugendlichen eine Integration in die Gesellschaft ermöglicht werden sollte. Diese – leider bald berüchtigte – Bundesanstalt wurde 1974 geschlossen. An ihre Stelle traten von der Bewährungshilfe geführte offene Wohngemeinschaften. In Kaiserebersdorf selbst wurde 1975 die Justizvollzugsanstalt Simmering eröffnet, die 1994 bis 1999 den charakteristischen neuen Anbau erhielt.

Das Thema Nach dem Inkrafttreten des am 18. Juli 1928 beschlossenen Jugendgerichtsgesetzes wurde mit 1. Jänner 1929 das ehemalige Schlossareal als Bundesanstalt für Erziehungsbedürftige zur Unterbringung schwer erziehbarer Kinder und Jugendlicher genutzt. Geleitet wurde die für die damalige Zeit moderne Erziehungsanstalt von Richard Seyß-Inquart, dem Bruder des späteren nationalsozialistischen Bundeskanzlers und NSDAP-Funktionärs Arthur Seyß-Inquart. Richard Seyß-Inquart setzte jedoch auf pädagogische und psychologische Maßnahmen, sein Grundsatz war „Ihr sollt nicht strafen, bessern sollt ihr“. Die Anstalt sollte also Jugendlichen über Erziehung und Arbeit und unter Einbeziehung moderner (entwicklungs-)psychologischer Messverfahren („Wofür interessiere ich mich? Was kommt mir enbtgegen?“) eine zweite Chance zur Integration in die Gesellschaft ermöglichen.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1938, dem Tod Richard Seyß- Inquarts und der Übernahme der Leitung durch den vormals illegalen Nationalsozialisten Otto Schürer-Waldheim wandelte sich die Anstalt in ein Repressionsinstrument gegen sozial deviante Jugendliche. Die Jugendlichen wurden gequält, mussten für die Wehrmacht arbeiten und wurden zum Teil in den letzten Kriegstagen in Strafbataillonen verheizt. Auch die angewandten psychologischen Methoden stellten sich in den Dienst der rassistischen und biologistischen NS- Ideologie. Den repressiven Charakter behielt sie auch nach der Befreiung 1945 in vielerlei Hinsicht bei. Sie wurde nun dem Justizministerium unterstellt, ein großer Teil des Personals wurde aber einfach übernommen.

Die Jugendlichen kamen alle aus ärmlichen Verhältnissen, fast alle aus unvollständigen Familien, viele hatten als Waisen bereits lange Heimkarrieren hinter sich oder sie kamen deshalb nach Kaiser-Ebersdorf, weil ihre Stiefväter sie misshandelten. Auch sexuell missbrauchte und Kinder von Opfern des Nationalsozialismus waren darunter. In den Schriftstücken wie Führungsakten, Erhebungs- und Gerichtsberichten, beschrieben die Verantwortlichen die Jugendlichen mit Adjektiven wie zum Beispiel „muffig“, „grenzdebil“, „hemmungslos“, „hinterhältig“, „renitent“, „primitiv“, „faul“ oder „tiefgehend verwahrlost“. Sie sahen nichts Positives in den jungen Menschen. Die Zustände waren auch in der Folge so schlimm, daß es Ende der 1940er und in den 1950er Jahren zu Aufständen in der Anstalt kam, die unter Zuhilfenahme der Bereitschaftspolizei brutal unterdrückt wurden. Erst im Zuge der fortschrittlichen Justizreformen in der sozialdemokratischen Regierung Kreiskys wurde dieser Zustand beendet und die Anstalt geschlossen. Die Sendung behandelt den historischen Hintergrund der Anstalt und der dort erstmals in Österreich angewandten neuen psychologischen Methoden von der christlich-sozialen Ethik und den Sozialreformen des roten Wien hin zur erbbiologistischen und rassistischen Unterdrückungspolitik der nationalsozialistischen Diktatur bis zur Nachkriegszeit und den hier wirkenden Kontinuitäten.

Zu Gast Martin Wieser studierte Psychologie und Philosophie an der Universität Wien und der Freien Universität Berlin. Von 2010 bis 2014 war er Fellow am interdisziplinären Doktoratskolleg „Die Naturwissenschaften im historischen, philosophischen und kulturellen Kontext“ am Institut für Geschichte der Universität Wien sowie Dozent an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien. 2013 arbeitete er als Research Fellow am Graduate Program „History and Theory of psychology“ der York University in Toronto, 2014 als Gastwissenschaftler an der HU Berlin am Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte. 2013 promovierte er im Fach Psychologie an der Universität Wien, 2014 ebendort in Philosophie. Von April 2016 bis März 2020 war er Projektmitarbeiter in dem Forschungsprojekt „Psychologie in der Ostmark“ an der SFU Berlin, seit 2020 ist er Projektleiter des Nachfolgeprojekts „Theorie, Praxis und Konsequenzen der Operativen Psychologie“.

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